Stellungnahme des Netzwerk Patienten- und Familienedukation in der Pflege e.V. zum Patientenrechtegesetz und Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz

Johanna Gossens, MScN
Mitglied des Vorstandes,

im Auftrag des Netzwerkes für Patienten- und Familienedukation in der Pflege e.V.
Das Netzwerk für Patienten- und Familienedukation in der Pflege e.V. hat sich auf seiner diesjährig in Wien stattfindenden Tagung mit den aktuellen Entwicklungen zu den Themen Gesundheitskompetenz und Patientenrechtegesetz auseinandergesetzt. Mitglieder der zwanzig im Netzwerk vertretenden Organisationen (siehe: www.patientenedukation.de ), die sich seit nunmehr 15 Jahren mit dem Aufbau von Gesundheitskompetenz und einer Stärkung der Patientenautonomie beschäftigen, haben dazu folgende Stellungnahme verfasst:

Mit dem Patientenrechtegesetz hat der Gesetzgeber 2013 erstmalig die Rechte von Patienten im Rahmen einer medizinischen Behandlung als eigenständige gesetzliche Grundlage festgeschrieben. Der Gesetzgeber tut dies mit dem Ziel, den Patienten zu einem mündigen Partner in der Interaktion mit den behandelnden Personen und Organisationen zu machen und seine Autonomierechte zu stärken.

Leider werden jedoch alle Rechte und im Gegenzug auch die Pflichten der Behandler ausschließlich auf die Berufsgruppe der Ärzte bezogen. Dies mag sachgerecht sein, wenn z.B. eine Verpflichtung festgeschrieben wird zur Information über medizinische Behandlungsalternativen oder über mögliche Komplikationen vor geplanten Therapien. Es greift jedoch zu kurz, wenn eine nachhaltige Beratung und Schulung zum Umgang mit insbesondere chronischen Erkrankungen erforderlich ist. Hier ist eine pflegerische Perspektive zwingend erforderlich, um den Aufklärungspflichten in vollem Umfang nachzukommen. Autonomie erleben Patienten in ihrem ganz persönlichen Alltag, indem sie befähigt sind Wünsche zu verfolgen, Ziele zu erreichen, Aufgaben zu erfüllen und ihr Leben mit Zuversicht und Freude zu gestalten. Wer sich zum Ziel setzt die Autonomierechte von Patienten zu unterstützen, der sollte sich auch um eine lebensweltliche Begleitung von Menschen im Umgang mit den Auswirkungen von Krankheit bemühen.

Der Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz greift dieses umfassendere Verständnis von Gesundheitskompetenz auf, indem sie definiert wird als Fähigkeit gesundheitsfördernde Informationen finden, verstehen, beurteilen und anwenden zu können. Sie wird verstanden als eine Form der Alltagsbewältigung, die Information, Motivation und Handlungsfähigkeit voraussetzt. Neben dem Einzug von allgemeinen Gesundheitsinformationen in den verschiedenen Settings (Kita, Schule, Arbeitsplatz etc.), fordert der Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz insbesondere für chronisch erkrankte Menschen zusätzliche gezielte Unterstützungsmaßnahmen. Diese sollen sich durch ein hohes Maß an Kontinuität, Bedarfs- und Bedürfnisorientierung auszeichnen und die individuelle Problemsituation der Betroffenen adressieren.
Genau an diesem Punkt ist jedoch unseres Erachtens eine ausgewiesene pflegefachliche Perspektive zwingend erforderlich. Hier wird der Kernkompetenzbereich der Medizin verlassen und die Bewältigung des Alltags mit zum Teil massiven gesundheitlichen Einschränkungen tritt in den Vordergrund. Im Gegensatz zur Medizin betrachten die Pflegeberufe den Patienten und seine Erkrankung nicht als objektivierbaren, biomedizinischen Zustand einer Person, den es durch bestimmte Interventionen zum Positiven zu verändern gilt. Neben der messbaren Kategorie „Gesund-Sein“, gibt es auch mehrdimensionale Phänomene wie „Sich-Gesund-Fühlen“ oder eine gelingende Krankheitsbewältigung. Für Pflegende ist ein Patient immer ein integraler Teil eines familialen und sozialen Netzwerkes, verfügt über unterschiedliche Ressourcen zur Krankheitsbewältigung und erlebt krankheitsbedingte Veränderung in Bezug auf seine eigenen Lebenswünsche und –ziele. Hier kann die Berufsgruppe der Pflegenden viele Angebote machen, die insbesondere chronisch Kranken einen gelingenden Alltag und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Die Tradition in Deutschland, Pflegehandeln ausschließlich unter der Heilkundeausübung des Arztes zu subsummieren, wurde bisher vom Gesetzgeber, leider auch bei der Beratung des Patientenrechtegesetzes nicht in Frage gestellt.

Gibt es denn nicht auch Patientenrechte in der Gesundheitsversorgung jenseits ärztlichen Handelns? Im internationalen Vergleich sind in Deutschland gerade Patientenrechte, die einen Kompetenzerwerb im Umgang mit den Folgen ihrer Erkrankung fokussieren, völlig unterentwickelt. Ein Blick über den Tellerrand hinaus in andere hochfunktionale Gesundheitssysteme im europäischen und transatlantischen Ausland hätte das Potential, diese Haltung zu verändern. Hier tragen Pflegende einen maßgeblichen Teil der Verantwortung sowohl in der Gesundheitsversorgung von chronisch Erkrankten, als auch im Aufbau von Gesundheitskompetenz durch eine systematisch implementierte Fallbegleitung der Betroffenen und ihrer Familien, durch individualisierte Schulungsangebote oder auch durch die Präsenz als Ansprechpartner in bestimmten Lebensbereichen wie z.B. in den Schulen oder in Wirtschaftsunternehmen. Im direkten Bezug zum Lebensfeld der Betroffenen und ihrer Familien fördern Pflegende den Kompetenzaufbau im alltäglichen Handeln und beraten bei auftretenden Problemen, um individuelle Lösungen zu entwickeln.

Mit der Heilkundeübertragungsrichtlinie nach § 63 Abs. 3c SGB V vom 22.03.2012 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) im Auftrag des Gesetzgebers erstmals einzelne Arbeitsfelder identifiziert, in denen Pflegefachkräfte selbstständig beratend, schulend und informierend tätig sein können. Dies sind Tätigkeiten im Zusammenhang mit der langfristigen, kompetenzerweiternden Begleitung von chronisch kranken Menschen mit Diabetes, chronischen Wunden, dementiellen Erkrankungen und Hypertonie. Vorstellbar wären unseres Erachtens auch andere Bereiche wie: Patienten mit Herzinsuffizienz, chron. obstruktiven Lungenerkrankungen oder Tumoren. Die Heilkundeübertragungsrichtlinie ist ein Anfang zur Entkoppelung der pflegerischen Begleitung erkrankter Menschen von einer ausschließlich medizinischen Perspektive auf die Gesundheitsversorgung. Leider ist dieser Ansatz nicht konsequent weiterverfolgt worden. Es bleibt zu vermuten, dass einflussreiche Vertreter der ärztlichen, berufsständischen Organisationen im Gemeinsamen Bundes-ausschuss nicht unbeteiligt waren, als es darum ging die Zugangsvoraussetzungen für die Umsetzung dieser Richtlinie so hoch zu setzen, dass sie aktuell kaum zu erfüllen sind.
Es hätte dem Gesetzgeber gut zu Gesicht gestanden, die Bemühungen um eine, vielfach öffentlich geforderte, weitere Professionalisierung der Pflegeberufe auch und gerade in Abgrenzung zur medizinischen Versorgung im Patientenrechtegesetz als einen Anspruch der Patienten auf fachkundige pflegespezifische Betreuung und Begleitung zu verankern.

Dass diese Chance nicht ergriffen wurde, bedauern wir zutiefst. Sie hätte zu einer nachhaltigen Stärkung der Patientenautonomie und unseres Erachtens auch der Versorgungsqualität beigetragen.

Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung ist die aktuelle gesundheitspolitische Ausrichtung noch unverständlicher und führt in ihrer Konsequenz zu hohen volkswirtschaftlichen Belastungen. Nicht ausschließlich das Recht auf eine ausreichende medizinische Versorgung wird die zukünftigen Probleme lösen. Dieses Recht muss unbedingt erweitert werden um den Anspruch auf eine systematische Entwicklung von Kompetenzen bei den Patienten und ihrem Umfeld. Dies würde eine Inanspruchnahme des Gesundheitssystems in vielen Situationen entbehrlich machen. In dieser Hinsicht formuliert der Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz wegweisende Ziele. Jeder chronisch erkrankte Patient, der in der Lage ist seine Situation kompetent selbst zu meistern, der Anpassungen in einer Langzeittherapie bedarfsgerecht selbst vornehmen kann, der über Strategien verfügt seinen Zustand zu stabilisieren und sich risikoadaptiert verhalten kann, leistet einen Beitrag, um eine weitere Kostenexplosion im Gesundheitswesen zu verhindern. Leider wird das Potential, das die Pflegeberufe insbesondere in der Begleitung von chronisch Kranken mitbringen, auch hier nicht explizit benannt. Für Tätigkeitsfelder, die in anderen Industrienationen mit einem hoch entwickelten Gesundheitssystem selbstverständlich in den Pflegeberufen verortet sind, suchen wir in Deutschland immer noch nach verantwortlichen Akteuren. Es bleibt die Hoffnung, dass der Gesetzgeber sich in der Zukunft unabhängig von den meist medizinisch orientierten Beratern und Lobbyisten auch mit dem einklagbaren Recht der Patienten auf Kompetenzaufbau und lebensweltliche, pflegerische Begleitung befasst und den spezifischen Beitrag den der Pflegeberuf hierzu leisten kann nicht nur erkennt, sondern auch unabhängig von der medizinisch ausgerichteten Meinungshegemonie gesetzlich verankert.

Verabschiedet auf der Mitgliederversammlung in Wien im April 2018